Die Eintagsfliege
Von Hans Christian Andersen
An manch einem warmen Sommertag hatte die Eintagsfliege um die Krone eines alten Baumes getanzt, gelebt, geschwebt und sich glücklich gefühlt. Wenn das kleine Geschöpf einen Augenblick in stiller Glückseligkeit auf den großen, frischen Blättern ausruhte, so sagte der Baum immer:
„Arme Kleine! Nur ein Tag währt Dein ganzes Leben! Wie kurz das ist! Wie traurig!“
„Traurig?“ erwiderte dann stets die Eintagsfliege, „was meinst Du damit? Alles ist so herrlich licht, so warm und schön, und ich selbst bin glücklich!“
„Aber nur einen Tag, und dann ist alles vorbei!“
„Vorbei?“ sagte die Eintagsfliege, „Was ist vorbei? Bist Du auch vorbei?“
„Nein, ich lebe vielleicht Tausende von Deinen Tagen, und meine Tage sind ganze Jahreszeiten! Das ist etwas so Langes, dass Du es gar nicht ausrechnen kannst!“
„Nein, denn ich verstehe Dich nicht! Du bist Tausende von meinen Tagen, aber ich habe Tausende von Augenblicken, in denen ich froh und glücklich sein kann! Hört denn alle Herrlichkeit dieser Welt auf, wenn Du einmal stirbst?“
„Nein“, sagte der Baum, „die währt gewiss länger, unendlich viel länger, als ich denken kann!“
„Aber dann haben wir ja gleich viel, nur dass wir verschieden rechnen!“