Hebamme Dr. Clarissa Schwarz

„Was ich von dir brauche“ Eine Art „Erste-Hilfe-Text“ von Inga Ohlsen für Trauernde und ihre Angehörigen

Was ich von dir brauche – Bitten an meine Freunde und Familie

Was ich von dir brauche,
ist, dass du da bist,
mir deine Hand behutsam entgegenstreckst
durch kleine Zeichen der Aufmerksamkeit,
die keine Antwort erwarten.
So weiß und fühle ich, dass du mir in der schwersten Zeit zur Seite stehst
und ich mich bei dir ausruhen kann.
Denn ich bin so erschöpft von den Stürmen,
die in meinem Inneren toben.

Was ich von dir brauche,
ist dein offenes Ohr,
und vor allem dein offenes Herz, dein ehrliches Mitgefühl.
Denn nur in einem Raum der Liebe
kann ich mit allem da sein, was mich bewegt.
Ich weiß, dass das nicht immer leicht für dich ist,
besonders dann, wenn mein Schmerz und meine Traurigkeit
in dir Saiten zum Schwingen bringen,
deren Klang sonst vom Rauschen des Alltags übertönt wird.

Was ich von dir brauche,
ist der Mut, mir Fragen zu stellen,
auch wenn ich nicht auf alle eine Antwort geben kann,
der Mut, die Stille auszuhalten,
wenn Worte nicht reichen,
um die Dimension der Gefühle zu erfassen.

Was ich von dir brauche,
ist eine sanfte Umarmung,
deine Hand auf meiner,
nicht zu fest,
denn ich kann dich nicht mittragen.

Was ich von dir brauche,
ist das Wissen, dass du mich nicht trösten kannst,
so gern du es auch würdest,
und dass wohlgemeinte Worte des Trostes,
wenn sie nicht tief aus deinem Herzen kommen,
mich verletzen können und ich mich noch einsamer fühle.

Was ich von dir brauche,
ist deine ganze Achtsamkeit.
Denn ich fühle mich so zart wie aus dünnem Glas.
Wenn ich nicht ganz sicher bin,
dass jede deiner Berührungen sich meiner Zerbrechlichkeit bewusst ist,
habe ich Angst
und wage nicht, dir mein Innerstes zu zeigen.

Was ich von dir brauche,
ist das Annehmen unserer Hilflosigkeit
angesichts der unerklärlichen Macht des Schicksals.
Es ist in Ordnung, dass du im Moment nichts weiter tun kannst,
als einfach da zu sein, dich berühren zu lassen
und mit mir in die Wasser der Gefühle einzutauchen.

Was ich von dir brauche,
ist Geduld, wenn ich meine Geschichten immer und immer wieder erzähle,
in Erinnerungen lebe.
Denn so bleibt mein geliebter Mensch lebendig,
bleibt an seinem Platze
und ich kann seine Nähe spüren.
Vielleicht ist dir unwohl, wenn ich so viel von einem Toten spreche,
doch für mich ist der Umgang mit den Toten zum Teil der Wirklichkeit geworden.

Was ich von dir brauche,
ist Verständnis, dass ich in einer ganz eigenen Welt lebe,
in einer Welt zwischen den Welten
und mich nicht so auf deine einlassen kann,
wie ich es früher ganz selbstverständlich tat.
Es ist nicht so, dass mich dein Leben nicht interessiert.
Aber ich brauche gerade alle meine Kraft,
um die zersplitterten Einzelteile meines Herzens zusammenzusuchen
und mir den Weg durch meinen Alltag zu bahnen,
ohne mir an jeder Ecke blaue Flecken zu holen,
weil meine Sinne nur nach innen schauen.

Was ich von dir brauche,
ist Respekt dafür, dass das normale Leben mir im Moment zu laut und zu schnell ist.
In der Geborgenheit meines Zuhauses fühle ich mich wohler als unter Menschen.
Ich möchte keine Ablenkung.
Denn die Trauer um meinen geliebten Menschen,
die Liebe und die Sehnsucht
haben mich so allumfassend in ihren mächtigen Händen,
dass es für mich kein anderes Thema gibt.

Was ich von dir brauche,
ist das Vertrauen, dass ich aus eigener Kraft meinen Weg meistern werde,
dass ich selbst weiß, was mir guttut.
Bitte gib mir keine wohlgemeinten Ratschläge
und nimm mein Verhalten und meine Bedürfnisse an,
auch wenn sie dir manchmal schwer verständlich sind.

Was ich von dir brauche,
ist, dass du authentisch bist,
dich nicht verstellst
und versteckst hinter Floskeln.
Wenn es dir einmal zu viel wird,
so ist es mir lieber, du sagst es ganz offen
und sorgst auch für dich
als dass das Gefühl zwischen uns angespannt wird.
Wenn du unsicher bist, was für mich gerade stimmig ist,
dann trau dich, mich einfach direkt danach zu fragen.
Es kann sein, dass meine Antwort ganz anders ist als du es erwartet hättest.
Und es kann auch sein, dass sie nur wenige Momente später
schon wieder ganz anders ausfällt.
Denn meine Trauer ist wie ein Ozean voller Wellen,
die kommen und gehen,
und deren Lauf sich nicht vorhersagen lässt,
weil sie sich nicht nach den Regeln unserer Gesellschaft richten.

Was ich von dir brauche,
ist, dass du mir auch nach Monaten und Jahren immer wieder zeigst:
„Ich bin bei dir, jetzt und später“.
Denn für mich läuft die Zeit anders
und gerade dann, wenn scheinbar alles wieder seinen normalen Gang geht,
kann es sein, dass deine liebende Gegenwart für mich am wichtigsten ist.

Was ich von dir brauche,
ist, dass du da bist,
mit allem, was ist.


Inga Elisabeth Ohlsen: Wie ich dich fühle. Gedichte für Trauernde. Mit Skulpturen von Andrea Ohlsen. Edition Riedenburg. S.37-41

https://inga-ohlsen.de/