Hebamme Dr. Clarissa Schwarz

Das Märchen „Vom Kind, das nicht ankam“

Vom Kind, das nicht ankam

Weit, weit weg von hier auf der großen Himmelswiese spielen und tanzen die vielen Himmelskinder, die darauf warten, ihren Erdenweg anzutreten. Obwohl es den Kindern dort gut gefällt, ist es immer eine Freude, wenn wieder eines von ihnen hinunter zur Erde geht. Dann rufen die Glocken des nahen Sternentempels viele Engel herbei. Die meisten Himmelskinder fahren fort in ihrem fröhlichen Tun, doch einige nähern sich erwartungsvoll. Ein Engel geht auf eines der Kinder zu, nimmt es behutsam bei der Hand und macht sich mit ihm auf den Weg zur Erde.

Zuerst gehen sie an den Ort, von dem man aus auf die Erde schauen kann. Das Himmelskind blickt hinunter und staunt: Es sieht Berge und Täler, Meere und Flüsse, Wälder, Blumen und Tiere und viele, viele Menschen. An einem Haus bleibt sein Blick haften. Darin sieht es einen Vater und eine Mutter, deutet auf sie und sagt zu seinem Engel: „Dort möchte ich hin!“

Sie gehen weiter und kommen zur Sternentreppe. Gemeinsam beginnen sie, die lichten Stufen hinunterzusteigen bis zum großen Himmelstor. Langsam öffnet es sich vor ihnen, und sie erblicken die Regenbogenbrücke, die sich bis zur Erde spannt. Nun ist es nicht mehr weit. Doch als dieses Kind seinen Fuß auf die Brücke setzen will, hält der Engel inne. Er neigt sich zu ihm herab und sagt ihm leise etwas ins Ohr.

Da schaut das Kind noch einmal zur Erde hin. Dann wendet es sich um und ergreift die Hand des Engels. Dieser hüllt es sanft in seinen Flügel, und gemeinsam gehen sie auf der lichten Sternentreppe zurück.

Die Eltern, die das Kind erwartet hatten, waren sehr traurig, als es bei ihnen nicht ankam. Eines Abends standen sie unter einem sternenklaren Himmel und dachten an das Kind, das wieder zurückgegangen war. Auf einmal sahen sie Sternschnuppen, die eine kurze, helle Spur in den nächtlichen Himmel zeichneten. Da dachten sie beide gleichzeitig: So ist das auch bei unserem Kind gewesen – eine kurze Wegstrecke nur hat es sich uns zugesellt, aber in unserer Erinnerung lebt es als helle Spur. Hinfort nannten sie es: das Sternschnuppenkind.

M. und B. Stoewer: Vom Kind, das nicht ankam. In: Gudrun Stoewer: Begegnungen mit dem Tod. Geschichten von Sterben, Tod und Abschiednehmen. Ogham Verlag 1998